Samstag, 15. April 2017

Spezialinteressen


Bei dem Stichwort "Autismus" denken viele an Wunderkinder oder "Savants" – Menschen, die beinahe übermenschliche Fähigkeiten oder Kenntnisse in einem Spezialgebiet besitzen. Sogenannte "Inselbegabungen" sollen allerdings genauso häufig bei NTs vorkommen. Warum sind sie dann so eng mit dem Autismus verknüpft? Wenn ein "normales" Kind hochintellektuell ist und sich auf einem Gebiet besonders gut auskennt, geht es halt an die Uni und wird Professor oder Forscher oder was auch immer. Schlaue Leute unter sich. Bei einem Autisten geht man ja eh davon aus, dass er "ein bisschen zurückgeblieben" ist, und daher ist es umso bemerkenswerter, wenn er plötzlich Begabung zeigt. Jemand, der keinen geraden Satz rausbringt, zeichnet Stadtpanoramen aus dem Gedächtnis? Wahnsinn.
In meinen Augen geht es hier viel um mediales Interesse, weil der Gegensatz einfach so groß ist. Keiner (außer vielleicht den Kollegen) beglückwünscht einen Wissenschaftler für seine großartigen Entdeckungen. Gehört schließlich dazu, wenn du ein Schlaumeier bist. Irgendwie ein bisschen unfair, das Ganze … Solche "Spezialinteressen" können aber in der Tat ein Erkennungszeichen für eine Autismus-Spektrum-Störung sein. Von einfachen Hobbys unterscheidet sie, dass sie mit einer fast schon beängstigenden Leidenschaft gelebt werden, meist nicht altersgerecht sind und gerne mal abgesehen jeglicher "normaler-Freizeitbeschäftigungs-Norm" liegen.
Da Autisten Ordnung und jegliche Art von Listen lieben, sind die Spezialinteressen gerne analytisch. Jahreszahlen lernen, Sprachen auseinanderpflücken, Tiere und Pflanzen kategorisieren. Beispiele? Zu meinen Interessen gehörte: das Alte Ägypten (Alter: etwa 9), Dinosaurier (etwa 10), Philosophie und Yoga (etwa 12). Alles nicht so ganz altersgerecht. Aktuell sind es: Typographie (ich kann stundenlang schön gestaltete Wörter angucken), Sprachen (bisher gelernt: Englisch in verschiedenen Dialekten, Französisch, Spanisch, Italienisch, Walisisch, Japanisch und ein paar Brocken Maori, Samoanisch, Hindi). Gesetzestexte (Ich kann nix dafür. Läuft unter dem Thema "Sprache". Ich finde es faszinierend, wie verschwurbelt man sich ausdrücken muss, nur um definitiv und 100% kein Schlupfloch zu hinterlassen.)

Der berufliche Erfolg ist für Aspies oft durch die Kommunikationsschwierigkeiten verbaut. Wenn man sich im Bewerbungsgespräch nicht "verkaufen" kann, bleibt man eben auf der Strecke. Dabei können wir doch strahlen – mit unseren Spezialinteressen. Das ist natürlich nicht immer möglich und gern auch mal durch sonstige Handicaps beeinträchtigt. Ich habe das große Glück, den für mich perfekten Job gefunden zu haben. Ich darf Prozesse und Arbeitsabläufe entwickeln, Schulungsunterlagen erstellen, habe ein fast eigenes Büro (Chef ist selten da) und bin aber oft genug in unserer Werkshalle unterwegs oder kriege "Besuch", dass es nicht langweilig wird. Etwas Routine, viele neue Themengebiete mit vielen neuen Gesetzestexten zum Durchgraben (was keiner sonst machen will) – eine feine Sache. Und da Sprache zu meinen Interessen gehört, ist es für mich nicht dramatisch, Vorträge zu halten. Eine lange, stressige Woche mit (zu) vielen Sinneseindrücken kann ich kompensieren, indem ich ein paar Überstunden abfeiere. Und damit ist das Einzige, womit mein ASS negativ auffallen könnte, auch weg vom Tisch. Ganz und gar perfekt für mich. Drückt mir die Daumen, dass es noch lange so bleibt :)



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